Inge Friedemann, geb. Rosenthal
(1921 Bielefeld – 1993 Cincinnati)
Bücher, in denen familiäre Ereignisse festgehalten werden, haben im Haushalt einen besonderen Wert. Insbesondere Bibelausgaben wurden und werden zu diesem Zweck herangezogen. Die Erinnerung an die verzeichneten Ereignisse und Personen soll gemeinsam mit der Wahrung der heiligen Schriften in ihrem Fortbestand gesichert werden. So auch in den zwei erhaltenen Bänden einer mehrbändigen Bibelausgabe. Sie enthält neben dem hebräischen Text eine aramäische und eine deutsche Übersetzung in hebräischer Schrift sowie den Kommentar von Raschi.
In Band 1, Sefer Bereschit (Buch Genesis), findet sich der folgende Eintrag:
Meine geliebte Frau unsere teure Mutter Friederike Stein geb. Balzer ist geboren am 25. Mai 1850 gestorben am 29. November 1924 oder am 2. Kislew 5685. Sie ruhe sanft.
Band 4, Sefer Bamidbar (Buch Numeri), enthält diese Eintragungen:
Horst Schaul Hauptmann geboren am 23. Juni (25. Sivan) 1919. morgens 4 1/2 Uhr
Inge Rosenthal [Rosenthal getilgt und darüber:] I. Balzer geboren am 19. September 1921 16 Tag im Elul 1921
Fritz Günther Stein geboren am 6. April 1925 12. Nissan 5685 morgens 4 1/2 Uhr.
Die Recherche ergab, dass die beiden Bände einer Familie zuzuordnen sind. Die Bücher stammen aus dem Besitz der Eheleute Michael Stein und Friederike, geborene Balzer. Von deren Heimatort Löbau/Lubawa in Westpreußen zog das Ehepaar 1914 nach Bielefeld. Zunächst wohnten sie im Anwesen des Schwiegersohnes Willy Hauptmann, Ehemann von Tochter Rosa. Die beiden weiteren Kinder von Michael und Friederike - Betty und Jakob - wohnten ebenfalls mit ihren Ehepartnern in Bielefeld. Die Geburtsdaten deren Kinder finden wir nun im erhaltenen Band 4 wieder: Horst Schaul Hauptmann, Sohn von Willy Hauptmann und Rosa geb. Stein; Inge Rosenthal, Tochter von Paul Rosenthal und Betty, geb. Stein; Fritz Günther Stein, Sohn von Jakob Stein und Hildegard, geb. Cohn. Vermutlich wurden die ersten Einträge von Friederike Stein vorgenommen und nach deren Tod im Jahre 1924 setzte Michael Stein die Dokumentation der Familienhistorie fort, bis auch er – knapp 4 Wochen nach dem letzten Eintrag – im Mai 1925 verstarb. Das Ehepaar erlebte nicht den frühen Tod des genannten Enkels Fritz Günther 1938 und es erlebte auch nicht, dass seine 15-köpfige Bielefelder Familie 1941 nach Riga deportiert wurde. Bis auf die im Buch erwähnte Inge Rosenthal wurden sämtliche Familienmitglieder ermordet. Sie überlebte aufgrund einer weiteren Verschleppung über Hamburg nach Kiel, wo ihr kurz vor Kriegsende durch das Schwedische Rote Kreuz die Überfahrt nach Schweden ermöglicht wurde. Von dort aus emigrierte Inge Rosenthal in die USA, wo sie 1947 den ebenfalls emigrierten Werner Friedeman(n) heiratete. Eine erschütternde Zeugenaussage über die Zustände und die Beteiligten in Riga erstattete sie 1964 vor dem deutschen Konsul in Cleveland/Ohio, (siehe Literaturhinweis).
Der im Buch genannte Horst Schaul Hauptmann, Inges Cousin, plante offensichtlich die Ausreise nach Palästina. Zur Vorbereitung hierzu gab es für junge Jüdinnen und Juden die Hachschara-Einrichtungen. Dort absolvierten sie eine landwirtschaftliche oder eine handwerkliche Ausbildung, die es ihnen erleichterte, ein Visum für das damals britische Mandatsgebiet Palästina zu erhalten. Zunächst war Horst Schaul im niederländischen Werkdorp Wieringermeer zur Ausbildung, später war er im Landwerk Ahrensdorf vermutlich als Ausbilder tätig, bis er 1943 nach Riga - nach anderer Quelle nach Auschwitz – deportiert und ermordet wurde.
Erfreulicherweise konnten wir Inge und Werner Friedemans Tochter in den USA ausfindig machen und ihr im Oktober 2020 die beiden Bände aus dem Familienbesitz zukommen lassen. Wir sind sehr dankbar, dass sie es uns gestattete, die sehr seltenen Bände zu digitalisieren um sie für Forschungszwecke verfügbar zu halten.
Wie auch bei den übrigen Büchern westfälischer Provenienz im Nachlass Davidovic der Bibliothek der HfJS können wir vermuten, dass es sich um von den NS-Behörden konfiszierte Bände handelt, die nach Kriegsende an jüdische Einrichtungen in Westfalen verteilt worden waren.
Dank
Bei der Recherche zur Familienhistorie war uns Herr Stadtarchivdirektor Dr. Jochen Rath aus Bielefeld äußerst behilflich. Frau Anna Rubin vom Holocaust Claims Processing Office, New York, danken wir für die Unterstützung bei der Identifizierung der Nachkommen. Dank auch an die Universitätsbibliothek Heidelberg für die Anfertigung der Digitalisate und deren Bereitstellung.
Ausgewählte Quelle
Minninger, Monika, Joachim Meynert und Friedhelm Schäffer: Antisemitisch Verfolgte registriert in Bielefeld 1933-45. Eine Dokumentation jüdischer Einzelschicksale (Bielefelder Beiträge zur Stadt- und Regionalgeschichte, Bd. 4), Bielefeld 1985, S. 288-291.
Link zum Digitalisat der beiden Bände
Links zu den Exemplaren in der Datenbank Looted Cultural Assets:
(Text: Ph. Zschommler)