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Welche Bedeutung hat Nächstenliebe im Judentum?

Welche Bedeutung hat Nächstenliebe im Judentum?

In einer Welt, in der Polarisierung zunimmt und Menschen sich in ihre eigenen Echokammern zurückziehen, fordert das Judentum, im Gegenüber nicht den Feind, sondern den Nächsten zu erkennen. Das Gebot der Nächstenliebe überschreitet soziale Grenzen, denn es verlangt eine Kultur der Verantwortung für alle Mitglieder einer Gesellschaft, nicht nur für diejenigen, die der eigenen Gruppe zugehören.

Das Gebot „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst“ stammt aus der Torah (Lev 19,18), dennoch wird es in allgemeiner Wahrnehmung eher dem Christentum zugeordnet. Das ist eine Folge jahrhundertelanger antijüdischer Polemik, die das Judentum als eine Religion des Gesetzes darstellte. Dabei sind im Judentum nur wenige Gebote so zentral wie die Liebe, als Liebe zu Gott wie als Liebe zu den Mitmenschen.

Der Vers, der die Nächstenliebe gebietet, findet sich im Teil der Torah, der Heiligkeitskodex genannt wird. „Heilig sollt ihr sein, denn heilig bin ich der Ewige, euer Gott“ (Lev 19,1) – und dann folgt eine längere Aufzählung von gebotenen Verhaltensweisen im Kultus und in der sozialen Sphäre. Nach Heiligkeit als Nachahmung Gottes kann also nur streben, wer dafür sorgt, dass die Rechte der Schutzlosen einer Gesellschaft, ob beschrieben als Arme, Witwen, Waisen und Fremde, gesichert werden. Religiöse Gebote (Mizwot) werden unterschieden nach Pflichten, die gegenüber Gott wahrzunehmen sind (also in Form von Gottesdienst und kultischen Geboten) und den Pflichten, die gegenüber den Mitmenschen wahrzunehmen sind. Die Erfüllung von Geboten schafft dabei eine vertikale und eine horizontale Achse, in deren Schnittpunkt ein religiöser Mensch steht. Der Begriff von Heiligkeit ist also verknüpft mit der Verpflichtung, die Nächsten zu lieben wie sich selbst.

Wer aber ist mein Nächster? Es heißt nicht Bruder/Schwester, Freundin/Freund, weder Nahestehende noch ferne Personen (die „Übernächsten“) sind gemeint, sondern der Mensch, der gerade vor einem steht. Und dabei geht es beim Gebot der Nächstenliebe nicht um Zuneigung. Der Kontext des Verses Lev 19,18 lautet: „Du sollst dich nicht rächen und nichts nachtragen den Kindern deines Volkes, sondern deinen Nächsten lieben wie dich selbst. Ich bin der Ewige“. Es geht also um einen Menschen, mit dem ein Konflikt vorausgegangen ist. Und gerade dennoch soll man im Nächsten das göttliche Ebenbild erkennen und ihm/ihr entsprechend respektvoll begegnen.

Das Liebesgebot verlangt nicht ein Gefühl der Zuneigung, sondern ein Bewusstsein der Verantwortung, dass auch das Gegenüber Anspruch auf Würde, Respekt und gleiche Rechte hat. Eine menschliche Gemeinschaft kann nur funktionieren, wenn ihr Nächstenliebe zugrunde liegt. Dieses Prinzip der tätigen Verantwortung in der Gesellschaft ist ein tief verinnerlichter Wert auch für atheistische Juden und Jüdinnen, selbst wenn sie sich nicht auf die religiöse Begründung des Gebots der Nächstenliebe beziehen. In säkularisierter Form findet das seinen Ausdruck darin, dass in den vielen verschiedenen sozialen Bewegungen der Vergangenheit und Gegenwart ein hoher Anteil von Wegbereitern und Aktiven jüdisch ist.