Ist Demokratie ein jüdisches Thema?
Ist Demokratie ein jüdisches Thema?
Wie passen moderne Staatsverfasstheit und Judentum zusammen? Der religiöse und der ethnische Charakter des Judentums, geprägt durch eine jahrtausendealte Geschichte, scheinen in einem Gegensatz zu demokratischen Strukturen zu stehen. Was hat Demokratie mit jüdischen Werten zu tun?
Demokratie war nicht die Verfasstheit des Volkes Israel zu biblischen Zeiten. Im Tanach (Hebräische Bibel) lesen wir zunächst von patriarchalen Familienstrukturen, die dann in Clan- und Stammesstrukturen übergehen. Der lose Stammesverbund wird von Ältesten, Kriegshelden, Priestern und Propheten geführt, später mündend in die Erbdynastien eines Königtums. All dies waren Führungspositionen, die durch familiäre Herkunft, durch herausragende Taten oder durch göttliche Inspiration begründet waren, nicht aber im demokratischen Sinne „durch allgemeine, freie, gleiche und geheime Wahlen“ legitimiert.
Es wäre ahistorisch zu erwarten, das Konzept von Demokratie und Menschenrechten, wie sie heutzutage gemäß der Bill of Human Rights verstanden wären, schon in früheren feudalen und monarchistischen Gesellschaften vorzufinden. Doch demokratische Elemente wie Abstimmungen, Mehrheitsentscheid, Minderheitenschutz finden sich schon sehr früh in der Verfasstheit von jüdischen Gemeinden und Institutionen. Der Textkorpus der Rabbinischen Literatur (Jerusalemer und Babylonischer Talmud, Midraschim, Kommentare und halachische Responsen) und die Kultur des Lehrhauses beruhen ganz wesentlich auf der Bewahrung vieler, z.T. sehr verschiedener und sich sogar widersprechenden Überlieferungen. Religionsgesetzliche Entscheidungen wurden unter Berücksichtigung lokaler Traditionen, vor allem aber auf der Basis von Überzeugung durch Argumente getroffen. Seit der Vertreibung aus dem Land Israel im 2. Jahrhundert vollzog sich jüdisches Leben in der Diaspora in Form dezentraler, autonomer Gemeinde, ohne eine einigende hierarchische Struktur. Das Prinzip, Autorität auf Zustimmung und Überzeugung zu gründen, ist also schon 2.000 Jahre lang Teil jüdischer Kultur. Und bei der Gründung des modernen Staates Israel war es nahezu selbstverständlich, ihm eine demokratische, rechtsstaatliche Gestalt zu geben. Bis heute ist er die einzige Demokratie im Nahen Osten.
Freilich waren und sind jüdische Gemeinden beeinflusst vom Zeitgeist und von der Akzeptanz sozialer Interaktion, wie sie in der umgebenden Mehrheitsgesellschaft praktiziert werden. So überrascht es auch nicht, dass in den meisten jüdischen Gemeinden die Frauen Stimmrecht erst dann erhielten, nachdem 1919 das Frauenwahlrecht im Deutschen Reich eingeführt worden war. Und die Wahrnehmung des passiven Wahlrechts durch Frauen war bis vor wenigen Jahrzehnten noch sehr ungewöhnlich – nicht anders als in der Bundesrepublik insgesamt. Es gibt zwar keine Deckungsgleichheit zwischen der Verfasstheit eines modernen säkularen Staates und der einer Religionsgemeinschaft. Jedoch bieten demokratische Strukturen eines Gemeinwesens die größten Chancen, den Anspruch auf Würde und Gleichberechtigung aller Menschen, wie es auch dem Menschenbild des Judentums entspricht, zu verwirklichen.