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Was ist Tikkun Olam?

Was ist Tikkun Olam?

Tikkun Olam bedeutet „Reparatur der Welt“. Aber was ist da kaputt? Und wer oder was kann es reparieren? Tikkun Olam ist zu einem jüdischen Sammelbegriff für soziales und ökologisches Engagement geworden. Menschen sind aufgefordert, zugunsten einer gerechteren, konfliktärmeren, naturerhaltenden Welt zu wirken. In den Worten von Rabbi Tarfon: „Es obliegt dir nicht, das Werk zu vollenden; du bist aber auch nicht frei, von ihm abzulassen“ (mPirkej Awot 2:16)

Das Konzept geht zurück auf die jüdischen Mystiker, die sich im 17. Jahrhundert in Safed/Obergaliläa niederließen und nach Ganzheit der Welt strebten. Ihre religiöse Suche hatte einen konkreten historischen Hintergrund: Sie waren Kinder und Nachfahren von Juden, die im 15./16. Jahrhundert von der Iberischen Halbinsel vertrieben worden waren. Ihre Heimat, ihre Zugehörigkeit und ihre Existenz waren ihnen genommen worden, ihre Welt war buchstäblich zerbrochen. Dagegen setzte die Mystik der lurianischen Kabbalah die Idee von Tikkun Olam. Die Existenz des Bösen in der Welt wurde mit dem Mythos der „zerbrochenen Gefäße“ (Schwirat Kelim) begründet: Verschiedene Weltsphären hatten Gefäßen gleich Gottes Licht und Kraft aufgenommen, konnten sie aber nicht bewahren und zerbrachen. Seither ist es Aufgabe der Menschen, diese Bruchstücke wieder zu einem Ganzen zusammenzufügen. Das kann durch ethisches Verhalten, Gebet und Studium der Heiligen Schriften geschehen und wird deshalb Tikkun Olam, Reparatur oder Wiederherstellung der Welt, genannt.

Diese ursprünglich im Studium der Kabbalah beheimatete Theorie hat in den letzten dreißig Jahren eine enorme Renaissance erfahren. Losgelöst von mystisch-religiöser Praxis versteht man heute unter Tikkun Olam eine idealistische Restauration der Welt. Die Aufgabe und Bestimmung von Menschen sei es, ihren Teil dazu beizutragen, dass sich messianische Verhältnisse einstellen, indem Unfrieden, soziale Ungerechtigkeit und Umweltzerstörung beseitigt werden. Dies ist eine Form von sozialem Messianismus, der religiöse und säkulare Juden und Jüdinnen zugleich anspricht. Die einen empfinden dies als religiöses Gebot, für die anderen ermöglicht dieses Konzept eine Rückbindung ihres gesellschaftlichen Engagements an jüdische Tradition, ohne dafür selbst religiös werden zu müssen. Tikkun Olam ist so zu einem populären Begriff für notwendige gesellschaftliche Veränderung geworden, die die soziale und ökonomische Gleichberechtigung aller Menschen auf der Welt erstrebt, alle Verhältnisse von Ausbeutung und Entfremdung sollen überwunden werden. Fragen von globaler Gerechtigkeit werden ebenso Tikkun Olam zugerechnet wie Umweltschutz, Arten- und Tierschutz, Aufhalten des Klimawandels und alle Formen ökologischen Verhaltens.

Interessanterweise geht Tikkun Olam über das biblische Konzept einer Hierarchisierung der Schöpfung hinaus und stellt sie sogar in Frage. Gemäß der Schöpfungserzählung der Torah sei ja die ganze natürliche Umwelt dem Menschen untertan, der sie gleichwohl zu bewahren hat. Hier aber wird abgelehnt, Tiere, Pflanzen und natürliche Lebensräume vor allem auf deren Nützlichkeit für den Menschen hin anzusehen. Sie haben ein eigenes Lebensrecht und Daseinszweck, die von den Menschen zu respektieren sind.