Anneliese Beermann
(1913 Minden - 2005 Port Elizabeth)
Bei der ersten durchgeführten Restitution der HfJS handelt es sich um ein Gesangbuch aus dem Jahr 1836, herausgegeben von der Königlich-Württembergischen Israelitischen Oberkirchenbehörde. Die Entstehung des Buches resultiert aus dem wenige Jahre vor der Veröffentlichung erlassenen „Gesetz in Betreff der öffentlichen Verhältnisse der israelitischen Glaubensgenossen“. Mit diesem Gesetz sollte eine annähernde rechtliche Gleichstellung der Juden erreicht werden. Zudem diente es dazu, die gesamte jüdische Gemeindeverwaltung in den Staatsapparat mit Sitz in Stuttgart zu integrieren.
Das Buch enthält drei handschriftliche Einträge:
Samuel, Marienstr. 14
Franziska Samuel 1908
Anneliese Beermann 1927
Nun wäre zunächst eine Württembergische Provenienz zu vermuten, doch glücklicherweise weist das Etikett eines Buchhändlers aus Minden direkt zum Wohnort der Eigentümer des Buches.
In der genannten Marienstraße wohnten der Viehhändler Jonas Samuel (geb. 1856) und dessen Ehefrau Franziska, geb. Rosenfeld (geb. 1861). Franziska Samuel starb 1924. Vermutlich gab Jonas Samuel drei Jahre nach dem Tod seiner Frau das Buch weiter an deren Großnichte Anneliese Beermann, geb. 1913. Er selbst starb 86jährig im Sammellager Bielefeld, kurz vor seiner geplanten Deportation ins Vernichtungslager. Annelieses Vater Julius Beermann, ebenfalls Viehhändler, beging 1934 Selbstmord.
Nachdem Anneliese Beermann ihren Berufswunsch in der Jugendfürsorge als Jüdin nicht erfüllen durfte und der Familienbetrieb boykottiert worden war, beschloss Anneliese Beermann ihre Heimat mit ihrem späteren Ehemann Julius Roer zu verlassen. Julius Roers Familie hatte in Minden eine Schlachterei besessen und mindestens durch deren Geschäftsbeziehungen waren sich die Familien Roer und Samuel/Beermann bekannt gewesen. Julius Roer erhielt ein Ticket für den vom "Hilfsverein der deutschen Juden" gecharterten Überseedampfer "Stuttgart", der im Oktober 1936 in Bremerhaven auslaufen sollte. Bei der Kontrolle am Hafen sollte Julius Roer festgesetzt werden, da ihm vermutlich das Überschreiten der Freigrenze für Devisen vorgeworfen wurde. Bis zum Ablegen versteckte er sich auf der Toilette des Schiffes, da er von der SS gesucht wurde. Auf diese Weise gelangte er nach Kapstadt wohin ihm Anneliese im Frühjahr 1937 folgen konnte - trotz verschärfter Einreisebestimmungen nach Südafrika. Im Jahr 1938 erreichte auch Annelieses Mutter Hennie Südafrika.
Im Mai 2020 konnten wir Annelieses Enkelin Debbie Meyer in Johannesburg als Erbin ausfindig machen und ihr bald darauf das Buch zukommen lassen. Beim Auspacken der Postsendung ließ sie sich filmen und schickte uns das Video, was uns angenehm überraschte.
Im Herbst 2020 berichtete der "South African Jewish Report" über die Rückgabe des Buches.
Dank
Für die Unterstützung bei der Recherche danken wir vielmals Herrn Vinzenz Lübben, M.A. vom Kommunalarchiv Minden.
Bei der Erbensuche konnten wir auf die unschätzbare Hilfe von Anne Webber von der Commission for Looted Art in Europe zählen.
Ausgewählte Quellen
Dirks, Hans-Werner und Kristan Kossak: Berufsgruppe fällt der Vernichtung zum Opfer, in: Mindener Tagblatt, Nr. 197 vom 25.08.1907, S. 10 (Siehe auch: http://www.zg-minden.de/mt-zg250807.pdf).
Dirks, Hans-Werner und Kristan Kossak: Spuren jüdischen Lebens in Minden. Einzelschicksale Mindener Juden während des NS-Regimes, Bielefeld 2009.
Link zum Exemplar in der Datenbank Looted Cultural Assets
(Text: Ph. Zschommler)