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Gustav Langendorf

(Prag 1872 - Treblinka 1942)


„Die Juden sind der Freiheit viel näher als der Deutsche. Sie sind Sklaven, sie werden einmal ihre Ketten brechen, und dann sind sie frei. Der Deutsche aber ist Bedienter, er könnte frei sein, aber er will es nicht.   

Börne.“

Dieses und andere Zitate stellte der Autor Anton Kuh in seinem 1921 erschienenen Buch „Juden und Deutsche“ dem Text voran. Eine uns unbekannte Hand hob das Zitat unübersehbar deutlich hervor. Für die Provenienzforschung sind Markierungen im Fließtext von Büchern selten von Belang, da sie „lediglich“ die Auseinandersetzung der Leser:innen mit dem Inhalt bekunden.

In diesem Fall ist das anders. Die Spuren, die wir aus diesem und zwei weiteren Büchern nachzeichnen konnten, spiegeln das Schicksal ihres Eigentümers sowie der weiteren Nutzer:innen wider. Als Eigentümer identifizieren wir den Prager Kaufmann Gustav Langendorf – ermordet im Oktober 1942 in Treblinka. Teile seiner enteigneten Bücher, wie auch dieses hier, wurden vermutlich in das Konzentrationslager Theresienstadt geschafft und auf die Lagerbibliotheken verteilt. Wenn wir mutmaßen, dass die Markierung in Theresienstadt vorgenommen worden war, liegt die Aktualität von Ludwig Börnes Vision – gut 100 Jahre später – auf der Hand. Einige Bleistiftstriche sind es, die ein geraubtes Objekt zum Sprechen bringen lassen oder uns zumindest einen erweiterten Interpretationsspielraum bieten.

Vor allem aber sind es die Namen, die uns – handschriftlich oder in Form von Exlibris – den Eigentümer:innen der Bücher näherbringen können. Im Buch „Juden und Deutsche“ ist es der Name Langendorf, ergänzt mit einer Nummer. Im Rahmen der Provenienzrecherchen in der Bibliothek der Hochschule für Jüdische Studien Heidelberg wurde es genauer unter die Lupe genommen.

In einem weiteren Buch (Otto Hauser, Geschichte des Judentums, 1921) finden wir ein als Radierung ausgeführtes Exlibris mit dem Namen Gustav Langendorf.  Es zeigt eine auf einem Bücherstapel sitzende Person, sinnierend über einen in den Händen haltenden Totenschädel gebeugt. Auch in der Sächsischen Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden entdeckten die Kolleginnen und Kollegen bei der Suche nach Raubgut ein identisches Exlibris, zusammen mit dem vergleichbaren Namenszug Langendorf, wie er auch in Heidelberg erscheint (Max Brod, Weiberwirtschaft, 1917). Somit können wir immerhin drei Bücher einem Eigentümer zuweisen. Sie stammen jeweils aus Zugängen seitens der ehemaligen Tschechoslowakei, wo seit Kriegsende große Bücherbestände vom Raubmord an der jüdischen Bevölkerung des „Protektorats Böhmen und Mähren“ zeugen.

Gustav Langendorf selbst und viele seiner Familienmitglieder wurden Opfer der deutschen „Endlösung“. Seine Frau Olga starb bereits 1939. Zwei der vier Kinder wanderten schon in den 1930er Jahren in die USA aus und entkamen dem Terror. Die Briefe, die Gustav Langendorf an die Kinder in die USA geschrieben hatte, sind bisher die einzigen materiellen Zeugnisse, die den heutigen Enkel:innen noch vorliegen. Sie stammen aus der Zeit der deutschen Besatzung der Tschechoslowakei und behandeln unverfängliche Themen, um der Zensur und Bestrafung zu entgehen. Somit kann nur aus wenigen fragmentarischen Sekundärquellen der Versuch unternommen werden, Gustav Langendorfs Lebensweg nachzuzeichnen.

Am 9. November 1872 wurde Gustav Langendorf als jüngstes von sieben Kindern und Sohn von Klara, geb. Burger, und Simon Langendorf geboren.  Die Trauung von Klara und Simon wurde im Jahr 1858 durch den Prager Oberrabbiner Salomon Leib Rapoport durchgeführt. Vor dem Ersten Weltkrieg wird Langendorf Gesellschafter der Firma Schück, Katz & Co. Alexander Schück hatte das Bestreben, die Herstellung von Brot in Böhmen auf ein industrielles Niveau zu bringen und fand mit Gustav Langendorf einen Teilhaber in dem seit 1912 firmierenden Betrieb „Odkolek, Aktiengesellschaft, Dampfmühle und Brotfabrik“. In diesem Rahmen wurden nicht nur Mehle (und auch Fette) aus Übersee importiert, sondern auch Abkommen mit ortsansässigen Mühlen geschlossen. Auch privat wurde zwischen den befreundeten Familien eine Verbindung geschaffen. Gustavs Sohn Fritz ehelichte Alexander Schücks Tochter Marianne. Im Jahr 1920 war Langendorf Vorstand der Loge „Praga“ des Ordens B’nai B’rith.  In dieser Funktion organisierte er Spendenaktionen, etwa für das Asyl für mittellose kranke Israeliten in Meran oder das Israelitische Waisenmädchenhaus in [Prag-] Weinberge/Vinohrady. In den Aufzeichnungen des Ordens finden sich zudem einige Titel von Vorträgen, die Langendorf gehalten hatte und die seine vielseitigen Interessen wiedergeben („Über Henry Ford“, „Kulturströmungen im Osten“, „Über unsere Pflicht: Aufklärend auf die Menschheit zu wirken“, „Josef Klausners Buch „Jesus von Nazareth““). Bezüglich des in Dresden aufgefundenen Buches von Max Brod bestätigten uns die Nachkommen eine große Leidenschaft der Familie für Literatur und Musik, aber auch konkret eine Vorliebe für Max Brod. Im Jahr 1937 hält Sohn Fritz (1944 in Auschwitz ermordet) einen Logenvortrag mit dem Titel „Musik der letzten fünfzig Jahre (mit Schallplatten)“.

Familie Langendorf besaß in Prag mehrere Liegenschaften. 1928 lässt sie sich in einem repräsentativen Anwesen am Moldauufer in Prag-Smichow nieder. Kurz vor der Machtübernahme Hitlers erwirbt Gustav Langendorf ein Mietshaus in Berlin-Charlottenburg – 1941 muss er die Immobilie verkaufen und der Erlös wird vom Deutschen Reich eingezogen. Vom September 1941 datiert ein protokollierter Vorgang, gemäß dem Langendorf mit der Begründung polizeilich verhört worden war, seinen Davidstern mit dem Ellenbogen verdeckt zu haben. Noch nach dem Einmarsch der Deutschen ins Sudentenland infolge des Münchner Abkommens war sich Langendorf sicher, dass Prag unberührt bleiben würde – so die Erinnerungen seiner Nichte. Im Juli 1942 wird er mittellos nach Theresienstadt deportiert. Wir wissen nicht, ob er die in Dresden und Heidelberg aufgefundenen Bücher im Gepäck hatte, oder ob sie über die einziehende „Treuhandstelle“ in Prager Depots das Kriegsende überdauert haben. Dreieinhalb Monate nach seiner Ankunft in Theresienstadt wird Gustav Langendorf nach Treblinka überführt und dort ermordet.

Da wir anfangs mit der Feststellung des Eigentümers der Bücher etwas unsicher waren, verhalf uns das Exlibris selbst, die Verbindung zum Prager Gustav Langendorf zu knüpfen. Am unteren Rand der Radierung finden wir den Namen M. L. Pollak. Nach einer falschen Fährte (Max Pollak) wurden wir fündig und konnten die Künstlerin Margaret(he) Leonie Pollak identifizieren. Über sie ist leider sehr wenig bekannt. Sie war als Künstlerin in Berlin und München tätig und hatte ein Atelier am Tyl-Platz in Prag-Weinberge. Im selben Haus wohnte ihr Bruder, der Arzt Leo A. Pollak. Der Kunstverein für Böhmen veranstaltete unter anderem eine Ausstellung deutscher Malerinnen, bei der auch Pollak vertreten war. Sie heiratete 1931 Emilio Gronich in Meran. Vor den einsetzenden Deportationen aus Südtirol flüchtete sich das Paar mit ihrem Sohn Luigi in die Schweiz. Nach Kriegsende kehrte die Familie nach Italien zurück.

Nicht nur der Wohnort der Künstlerin in Prag-Weinberge, wo auch die Langendorfs zeitweise lebten, macht eine gegenseitige Bekanntschaft plausibel. Auch die Tatsache, dass Langendorfs Teilhaber Alexander Schück ein großzügiger Mäzen der Prager Kunstszene war, weist darauf hin. Schücks Sohn Arnold war mit der Bildhauerin Mary Duras verheiratet, die zeitgleich mit Pollak in Prag künstlerisch tätig war.

Seit längerer Zeit stehen wir bereits in einem anregenden Kontakt zu den Enkeln Gustav Langendorfs und freuen uns, dass wir ihnen die Bücher im Dezember 2021 aushändigen konnten.

Der hier vorliegende Text wurde in leicht abgeänderter Version bereits am 14.10.2021 in "Retour - Freier Blog für Provenienzforschende" veröffentlicht. Dort finden sich auch die entsprechenden Quellenangaben.


Dank

Wir danken vor allem den Familienangehörigen in Peru und den USA für die herzliche Kontaktaufnahme sowie die sehr vertrauensvolle Zusammenarbeit. Ein Dank geht auch an das Landesarchiv Berlin, an Herrn Krákora vom Archiv des Jüdischen Museums Prag sowie an die Kolleginnen und Kollegen der Dresdner SLUB, deren Beitrag (von Elisabeth Geldmacher) zur Rückgabe der Bücher sich hier findet.


Links zu den Büchern in der Datenbank Looted Cultural Assets:

"Juden und Deutsche"

"Geschichte des Judentums"


(Text: Ph. Zschommler)