Was bedeutet Nächstenliebe konkret?
Was bedeutet Nächstenliebe konkret?
Liebe kann man nicht befehlen. Wie also kann das Gebot der Nächstenliebe in die Tat umgesetzt werden? Wer ist denn mein Nächster? Bezieht sich das Liebesgebot nur auf einem selbst nahestehende Personen? Oder auf jeden Menschen in meiner Reichweite? Hat das Gebot Selbstliebe zur Voraussetzung, da es doch heißt: „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“? Der Vers erscheint zunächst leichtverständlich, und doch ist es eines der schwierigsten Gebote.
Martin Buber und Franz Rosenzweig übersetzten den Vers aus Lev 19,18 wie folgt: „Halte lieb deinen Genossen, dir gleich“. Mit dieser wörtlichen Übersetzung lösten sie das Liebesgebot von der Fixierung am eigenen Ego (Liebe deinen Nächsten wie dich selbst) und verschoben den Nachdruck auf die Beziehung zum Gegenüber. Damit knüpften sie an eine Geschichte an, die im Babylonischen Talmud, Schabbat 31a, überliefert wird:
Im ersten Jahrhundert v.d.Z. lebten in Jerusalem zwei bedeutende Rabbiner, die auch zu Begründern von Denkschulen wurden: Schammai und Hillel. Der Babylonische Talmud (Schabbat 31a) berichtet, dass einmal ein Nichtjude zu Schammai kam und ihm sagte: „Ich möchte zum Judentum übertreten, aber unter der Bedingung, dass du mich die ganze Torah lehrst, während ich auf einem Bein stehe“. Dieses Ansinnen ist eigentlich eine Frechheit und wohl eine Frae, die eher als Provokation gemeint war denn als echte Sinnsuche. Wie lange kann man schon auf einem Bein stehen – zwei, drei Minuten? Und in dieser Zeit soll der Inhalt einer schon damals jahrhundertealten Religion vermittelt werden, so dass jemand die als Lebensentscheidung auf sich nehmen kann? Schammai jagte diesen Mann fort. Aber der ließ nicht locker und ging zu Hillel mit demselben Anliegen. Hillel aber nahm diesen Mann an und antwortete ihm auf seine herausfordernde Frage: „Was dir nicht lieb ist, das tue auch deinem Nächsten nicht. Das ist die ganze Torah – und alles andere ist nur Kommentar. Gehe hin und lerne!“ Die Antwort war klar: Respektiere dein Gegenüber, er/sie ist wie du. Wenn du nicht weißt, wie du dich zu Gott, zur Welt und zu den Mitmenschen in Beziehung setzen kannst, so wirst du doch wissen, was du nicht möchtest und was dir nicht gefallen würde. Gehe ruhig von dir selbst aus und stelle dir vor, dass dein Gegenüber ganz genauso ein Mensch mit Gedanken und Gefühlen, mit Wünschen und Ängsten ist. Erkenne in ihm/ihr ein Geschöpf Gottes, so wie du selbst es bist. Niemand will gekränkt, entwürdigt oder unterdrückt werden – und das ist eine gute Ausgangslage dafür, darüber nachzudenken, wie dies in ein positives Gebot der Liebe zum Nächsten übersetzt werden kann.
Jüdische Gemeinden verfügten stets über eine Vielzahl von sozialen Institutionen und karitativen Hilfsvereinen. Sie unterhielten Krankenhäuser, Altersheime, Waisenhäuser, Fürsorgeeinrichtungen für Bedürftige aller Art, verschiedene Formen der Schul- und Berufsausbildung - und diese Aufzählung ist nicht einmal vollzählig. Der Umfang dieses Arbeitsgebietes heute ist von der Größe jeder Gemeinde abhängig, aber ortsübergreifend leistet der Zentralrat der Juden in Deutschland Unterstützung. Unter seinem Dach koordiniert die Zentrale Wohlfahrtsstelle Angebote für Weiterbildung und Professionalisierung der Sozialarbeit und bietet Freizeiten für Senioren, Familien und Menschen mit Behinderung an.
Eine zentrale Kompetenz der jüdischen Gemeinden liegt in der Flüchtlingsarbeit, denn die eigene schmerzvolle Erfahrung der Angewiesenheit auf Solidarität ist eingebrannt in das historische Gedächtnis. Die überwiegende Mehrzahl der in Deutschland lebenden Juden und Jüdinnen sind nicht hier geboren, kamen hierher mehrheitlich als Migranten und als Flüchtlinge. Die seit den 1990er Jahren aus der früheren Sowjetunion Zugewanderten, die heute etwa 80 Prozent der Gemeindemitglieder stellen, haben den aufenthaltsrechtlichen Status von „Kontingentflüchtlingen“. Es verwundert auch nicht, dass bei der durch den Überfall Russlands auf die Ukraine ausgelösten Fluchtwelle die jüdischen Gemeinden erste Anlaufpunkte waren, gleich ob die Neuankömmlinge jüdisch waren oder nicht. Hier stießen sie auf viel Empathie, denn die Gemeindemitarbeiterinnen hatten ja zumeist eigene Erfahrungen mit dem Fremdsein und der Integration in die Bundesrepublik. Zudem verfügten sie mit Kenntnissen der russischen und der ukrainischen Sprache, der Landeskunde und ihrer Geschichte über eine hohe Kompetenz und konnten effiziente Hilfe leisten.