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Was magst du an Rosch Haschanah und Jom Kippur?

Was magst du an Rosch Haschanah und Jom Kippur?

Rosch Haschanah und Jom Kippur gelten als die Hohen Feiertage des Judentums, denn an ihnen werden Fragen von Leben und Tod verhandelt. „Wer wird leben und wer wird sterben?“, fragt ein Gebet, das am jüdischen Neujahrsfest und am Versöhnungstag gesagt wird. Diese „Ehrfurcht gebietenden Tage“ werden als eine Zeit des Gerichts verstanden. Es ist eine Zeit der Besinnung, der Umkehr, der guten Vorsätze und auch des Fastens. Was soll denn daran attraktiv sein?

Die Hohen Feiertage um Rosch Haschanah und Jom Kippur im Herbst sind der Höhepunkt eines spirituellen Prozesses, der von Rückschau und Introspektion geprägt ist. Er erstreckt sich über vierzig Tage, denn er fängt schon mit Anbruch des vorangehenden Monats Elul an: Dann beginnt das täglichen Blasen des Schofars: Der dunkle, archaische Ton eines Widderhorns soll daran erinnern, dass jetzt die Zeit der Seelenprüfung und Umkehr ist. Religiöse Jüdinnen und Juden sagen in dieser Zeit „Slichot“, spezielle Gebete, die Gott um Verzeihung für Vergehen, Verfehlungen und Versäumnisse des vergangenen Jahres bitten. Denn mit Rosch Haschanah beginnt am 1. Tischrej ein neues Jahr, und kalendarische Umbrüche sind ein Anlass, sich zu befragen, wie man die zurückliegenden Monate verbracht hat und ob wirklich alles so gelungen war.

Obwohl diese Zeit von einer ernsten Stimmung geprägt ist, beginnt Rosch Haschanah ganz fröhlich. Es wird zunächst mit einem festlichen Abendessen begangen, das mit Kiddusch, also dem Segen über Wein, und mit mehreren symbolischen Speisen eröffnet wird, die Wünsche für das neue Jahr ausdrücken. Die Challot, die zu anderen Feiertagen länglich geflochtenen Brote, sind nun kreisförmig – damit das kommende Jahr ein „rundes“, vollkommenes werde. Apfelscheiben werden in Honig getaucht – damit es ein „süßes“ Jahr werde. Auch Granatapfelkerne (die Aussicht auf viele gute Taten stehen) und andere Früchte oder Gemüse, die einen Segenswunsch ausdrücken, werden gegessen. Man schickt auch Verwandten und Bekannten Neujahrsgrüße per Post, Mail oder Chat.

Die Zeit von Rosch Haschanah bis Jom Kippur wird als eine Periode des Gerichts angesehen. Nach traditioneller Vorstellung hält Gott in dieser Zeit Gericht: Alle Geschöpfe der Welt ziehen zu Rosch Haschanah vor Gott vorbei und werden auf ihr Verhalten, ihre Taten und Unterlassungen geprüft. Einer talmudischen Erzählung zufolge liegen vor Gott drei Bücher aufgeschlagen: Eines für die Gerechten, eines für die unverbesserlichen Übeltäter und eines für die Menschen, die sich irgendwo zwischen diesen beiden Polen befinden. Die vollkommen Gerechten werden sogleich zum Leben und die absolut Bösen zu Unheil und Tod eingeschrieben. Die Durchschnittlichen hingegen, zu denen wohl wir alle gehören, bekommen noch einen Aufschub: Ihr Urteil wird erst zum Ausgang von Jom Kippur gefällt werden. Dazwischen liegen also die „Zehn Tage der Umkehr“, in denen wir uns durch Gebete und Verhaltensänderung darum bemühen, die Waagschale zu unseren Gunsten zu beeinflussen. Der zentrale Begriff dieser Zeit ist „Umkehr“ (hebr.: Teschuwah), was den Prozess der Einsicht in die eigenen Fehler, den Willen zur Veränderung und das tatsächliche Ablegen der alten Verhaltensmuster meint.

Am 10. Tischrej ist Jom Kippur (Versöhnungstag), und Versöhnung soll auf zwei Ebenen bewirkt werden: a) zwischen Gott und mir, und b) zwischen meinen Mitmenschen und mir. In der Mischnah (Joma 8:7) heißt es:

Sünden des Menschen gegen Gott sühnt der Versöhnungstag. Sünden des Menschen gegen seinem Nächsten sühnt der Versöhnungstag nicht, bis man dessen Verzeihung erlangt hat.

In den Zehn Tagen der Umkehr nimmt zwar die spirituelle Atmosphäre an Intensität zu, aber Gebete können nicht den Schaden heilen, der in zwischenmenschlichen Beziehungen entstanden ist. Es ist nicht möglich, diesen schweren Schritt an Gott zu delegieren. Jede/r ist aufgefordert, selbst zu den Menschen zu gehen, denen man Kränkungen zugefügt hatte, und sich um Versöhnung zu bemühen. Diese muss erfolgt sein, bevor man am Jom Kippur vor Gott treten und von dort Vergebung erhoffen kann.

Während der Hohen Feiertage ist Weiß die dominierende Farbe in der Synagoge: Der Torahvorhang, die Torahmäntel und die Decke auf dem Lesetisch sind weiß, und am Jom Kippur kleiden sich auch die Menschen ganz in weiß, um die Hoffnung aus Jes 1,18 zu auszudrücken: „Wenn eure Sünden auch karmesinrot sind, weiß wie Schnee sollen sie werden“. In der Torah wird Jom Kippur als ein Tag der Kasteiung beschrieben (Lev 23, 27), was vor allem als ein strenger Fastentag verstanden wird. Dazu gehört der Verzicht auf jegliches Essen und Trinken (außer wenn das gesundheitlich geboten ist), auf Duschen, Kosmetik und sexuelle Beziehungen. Nach einer abschließenden Mahlzeit vor Anbruch des Jom Kippur gehen viele in die Synagoge, wo das berühmte Kol-Nidrej-Gebet die Liturgie des Versöhnungstages eröffnet. Es ist ein aramäischer Text, der von der Macht der Worte handelt und uns vor Gott von unbedacht gegebenen Versprechungen befreien soll. Mit seiner alten, ergreifenden Melodie beginnt das liturgische Drama dieses Tages, das die Anwesenden durch viele Höhen und Tiefen führt, und erst am folgenden Abend mit der Hawdalah-Zeremonie zum Ausgang des Jom Kippur eine Auflösung erfährt.

Fünf Mal wird das Hauptgebet der Amidah gesagt, das während der Zehn Tage der Umkehr besondere Einschübe erhält, die flehentlich darum bitten, zu einem Jahr des guten Lebens eingeschrieben zu werden. Daran schließt sich jeweils ein Schuldbekenntnis („Widui“), das die Gemeinde gemeinsam spricht. Auch wenn jede/r Verantwortung für die eigenen Verfehlungen übernehmen muss, fällt es doch leichter, diese gemeinschaftlich zu bekennen und daraus Kraft für die Schuldeinsicht zu beziehen. Ein Höhepunkt ist für viele die Lesung des Jonah-Buches im Nachmittagsgottesdienst, das die Themen der Hohen Feiertage aufnimmt. Der Unwille des Propheten Jonah, den ihm fernstehenden Menschen von Niniveh Umkehr zu predigen und sein Beharren auf ihrer Strafwürdigkeit bringt die schwierige Balance von Gerechtigkeit und Erbarmen zur Sprache. Ohne Gerechtigkeit, also ohne Verantwortung für die eigenen Taten und die Sanktionierung von Vergehen, würde die Welt in Regellosigkeit und Tyrannei versinken. Ohne Erbarmen und Vergebung hingegen gäbe es keine Chance zu Neuanfang und Veränderung.

Manche Gemeinden ziehen die Gebete vom Morgen bis zum Abend hin, so dass die Beter*innen den ganzen Tag in der Synagoge verbringen. Andere machen am frühen Nachmittag eine Pause, damit sich alle Akteure etwas ausruhen können oder bieten in dieser Zeit Schiurim (Lernstunden) zu Texten des Versöhnungstages an. Das SchlussgebetNe’ilah gewinnt noch einmal an Intensität, denn nach traditioneller Vorstellung stehen die Tore des Himmels kurz vor der Schließung und nun ist die letzte Gelegenheit, flehentliche Bitten vorzutragen. Dieses Gebet endet nach Sonnenuntergang mit dem Schma Jisrael („Höre Israel, der Ewige, unser Gott, der Ewige ist Einer“), der siebenmaligen Bekräftigung „Der Ewige ist Gott“ und einem langen Schofarton. Daran schließt sich die Hawdalah-Zeremonie zur Verabschiedung vom „Schabbat der Schabbate“ mit Wein, geflochtener Kerze und Gewürzen. Jom Kippur schließt auf diese Weise mit einer fröhlichen Note, und auch das Fasten endet mit einem gemeinsamen „Anbeißen“ mit leichten Speisen, Obst und Getränken. Zum Abschluss wünschen sich alle „Chatimah Towah“, die „Besiegelung eines guten Urteils“.

Gleich nach Ende des Jom Kippur richtet sich der Blick dann schon wieder auf das nur fünf Tage später beginnende Laubhüttenfest (Sukkot).