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Nach dem 7. Oktober - Wissenschaft und das Prinzip Hoffnung

Pressemitteilung

Am Mittwoch besuchten der Staatssekretär Arne Braun aus dem Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst, und Alexander Salomon, Vorsitzender des Arbeitskreises für Wissenschaft, Forschung und Kunst und Sprecher für Wissenschaft und Hochschule der Fraktion Die Grünen die Hochschule für Jüdische Studien Heidelberg. Begleitet wurden sie von Mitarbeiter:innen aus dem Ministerium und dem Arbeitskreis.

Neun Politiker und Politikerinnen aus Baden-Württemberg besuchten am Mittwoch die Hochschule für Jüdische Studien (HfJS) in Heidelberg, um sich nach dem 7. Oktober ein eigenes Bild über die Aktivitäten, aber auch über die Sorgen der Hochschulangehörigen zu machen.

Shaul Friberg, Rabbi der HfJS Heidelberg, berichtete der Gruppe vom enormen Anstieg an seelsorgerischer Tätigkeit seit den Terrorangriffen der Hamas auf Israel. Auch beobachtete er eine Zunahme israelischer Teilnehmender an der allmonatlichen Schabbatfeier, die er für alle Interessierten aller Religionen in der Hochschule organisiert.
„Wir dürfen auch nicht aufhören zu reden. Dialog, Trialog – wir müssen miteinander im Gespräch bleiben,“ so Friberg. Er freue sich besonders über das große Interesse und die offenen Solidaritätsbekundungen von Seiten der Politik. Alexander Salomon äußerte, dass er stolz und dankbar sei, „die Hochschule für Jüdische Studien als europäisches Kompetenzzentrum und weitere Zentren des jüdischen Lebens hier in Baden-Württemberg zu haben. Die Einschätzungen und Stimmen aus der Hochschule geben Orientierung und stärken alle, die sich informiert engagieren. Und hiervon braucht es gerade derzeit besonders viele.“

Nachdem die Gruppe ein wenig in der Bibliothek stöbern konnte und über die Bestände ebenso staunte wie über den geschichtsträchtigen Heidelberger Talmud, setzte man sich gemeinsam an den großen Tisch, um die momentane Situation zu diskutieren. Vorgestellt wurden auch Projekte, die aktueller sind denn je.

Nicht nur von Forschungsinteresse ist beispielsweise, das Projekt von Rabb. Prof. Dr. Birgit Klein. Hierbei sammeln und analysieren Wissenschaftler:innen jüdische Reaktionen auf Antisemitismus. Da sich die christlich-jüdische Annäherung bisher vor allem auf theologische Fragen beschränkte und auch die Ritualpraxis nach christlichen Begriffen gemessen wurde, zielt das Projekt auf mehr Verständnis und Akzeptanz durch eine ganz persönliche Annäherung. In Kurzvideos erklären Jüdinnen und Juden ihre persönlichen Gründe für bestimmte Rituale – sei es das Tragen einer Kippah, Kaschrut oder Observanz von Schabbat und Feiertagen. Jüdische Praxis und Religiosität erhalten Gesichter und sollen somit (be-)greifbarer werden.   

Philipp Zschommler, Mitarbeiter im Team Klein, leitet das Provenienzprojekt. Bereits seit 2019 widmet es sich der Erforschung der Herkunft von Büchern aus dem Bestand der Hochschulbibliothek. Unter den vor 1945 erschienenen Bände finden sich zahlreiche Exemplare, für die ein zu Unrecht erfolgter Entzug während des Naziregimes rekonstruiert werden kann. Die Eigentümer und Eigentümerinnen werden erforscht und deren Lebenswege mit dem Ziel nachgezeichnet, die Bücher an Nachkommen oder Nachfolgeeinrichtungen zurückzugeben.

Neben der Landesrabbinerschule in Budapest, so die frühere Bezeichnung des heutigen Rabbinerseminars, konnten schon über 200 Personen und Institutionen als rechtmäßige Eigentümer und Eigentümerinnen von Büchern, die vor allem über Schenkungen und antiquarische Ankäufe in den Besitz der Hochschule kamen, identifiziert werden. „Die Projekte werden zwar immer wieder gefördert, doch wäre eine Verstetigung sinnvoll, um langfristig Strategien entwickeln zu können“, so Zschommler.

Strategien entwickelt momentan auch die Studierendenvertretung der HfJS, „um dem besorgniserregenden Antisemitismus an Hochschulen und unter Studierenden etwas entgegensetzen zu können,“ so Cornelia D’Ambrosio. Neben dem ohnehin üblichen gesellschaftlichen Engagement wie beim jährlichen Mitzvah Day, dem Tag der guten Tat nach Jüdischem Glauben – den die Gruppe gemeinsam mit der jüdischen Gemeinde Heidelberg dieses Jahr ukrainischen und israelischen Kindern widmete, habe man seit dem 7.Oktober überregionale Allianzen und Kooperationen geschmiedet. Zukünftig werden gemeinsam mit anderen jüdischen Organisationen Diskussionen und Vorlesungen organisiert und auch das Uni-Kino möchte man einbinden, so Anna Gazarian, ebenfalls von der Studierendenvertretung. „Wir wollen Filme von israelischen Filmemacher:innen zeigen, um Stigmata durch Berührungen im kulturellen Kontext abzubauen.“ Gerade in der jetzigen Zeit sei es wichtig, dass die sogenannte Gegenseite als Mensch wahrgenommen wird. Michael Joukov, Sprecher für studentische Belange und akademischen Nachwuchs der Landtagsgrünen, ergänzt: „Dass Jüdinnen und Juden an deutschen Hochschulen Hass ausgesetzt sind und bedroht werden, nehmen wir nicht hin, sondern kämpfen dagegen. Antisemitismus hat nirgends einen Platz, erst recht nicht auf dem Campus. Hochschulen sind Hüterinnen von Freiheit und Toleranz. Gemeinsam suchen wir daher den Schulterschluss mit den Verantwortlichen unserer Hochschulen und allen Hochschulangehörigen, die Antisemitismus aktiv entgegentreten und dadurch deutlich machen: Hochschulen sind Teil der Lösung und nicht Teil des Problems.“

Dem Antisemitismus aktiv entgegentreten, ist auch das Motto von drei Studierenden, die besonders das Problem des Israelbezogenen Antisemitismus in und aus den arabischen Ländern umtreibt. „Wir dürfen nicht vergessen, dass viele geflüchtete Kinder und Jugendliche aus islamisch geprägten Ländern mit antidemokratischer Desinformation und einem tief verwurzelten antisemitischen Weltbild aufgewachsen sind“, so Lukas Stadler, Historiker und Judaist an der HfJS, der bereits für die jüdische Gemeinde Graz eine Broschüre für Antisemitismusprävention verfasste. Die antiisraelischen Stereotypen können oft nicht bekämpft werden, wenn Wissen nur in Schulen und vornehmlich auf Deutsch vermittelt werde, pflichtet ihm auch David Lüllemann bei. Lüllemann ist Masterand an der HfJS und bringt langjährige Erfahrungen in Schulungen zur Sensibilisierung für Antisemitismus mit. Gemeinsam mit Rawan Osman, einer syrisch-libanesische Studentin der HfJS, die bereits mehrere Jahre als Friedensaktivistin tätig ist, konzipieren sie Videos für Tiktok: Niedrigschwellige Informationsangebote, akademisch fundiert, ansprechend gestaltet und vor allem: auf Arabisch vorgetragen. Einzelne Aspekte umstrittener Themenkreise wie zum Beispiel dem Nahostkonflikt, muslimischem Antisemitismus, Verschwörungstheorien, aber auch antiislamischem Rassismus werden aufgegriffen und auf ansprechende Weise in arabischer Sprache erklärt. Alle drei Studierende erhoffen sich einen Mitmacheffekt unter arabischsprechenden Menschen in Deutschland, die bisher schwiegen.

Staatssekretär Arne Braun zeigt sich besonders von diesem Projekt angetan: „Davon möchte ich gerne anderen erzählen: es ist praktisch und könnte als Vorbild für weitere Initiativen dienen.“

Indessen ist das Trio mit der Vereinsgründung beschäftigt und sucht weiter nach finanzieller Unterstützung, um endlich durchstarten zu können: „Ohne das Prinzip Hoffnung kämen wir momentan nicht weiter.“

Gruppenfoto