Das Medieninteresse für den Besuch des Innenministers Thomas Strobl und des Antisemitismusbeauftragen von Baden-Württemberg Dr. Michael Blume am 3. November war so groß, dass auf etwa sechs eingeschriebene Studierendeetwa eine Pressevertretung, Fotograf oder Redakteur, kam.
Zynisch kann gesagt werden, dass sich nach dem 7. Oktober sämtliche Politiker:innen des Landes aufmachten, um sich vor jüdischen Einrichtungen oder Institutionen, die sich mit dem Judentum beschäftigen, ablichten zu lassen. Der Vorwurf zieht allerdings dann nicht ganz, wenn die Delegation mit dem ausdrücklichen Wunsch anrückt, sich im Beisein der Presse unzensiert mit Studierenden unterhalten zu wollen.
Statistiken sollen helfen, eine gefühlte Realität mit Zahlen zu untermauern oder eben, sie mit Fakten zu widerlegen. Laut Strobl wurden dem Landeskriminalamt Baden-Württemberg seit den Terroranschlägen der Hamas am 7. Oktober bis zum 23. Oktober antisemitische Straftaten und Aktionen im niedrigen dreistelligen Bereich gemeldet, die jedoch nicht strukturiert erfasst wurden. „Ich bin mir dessen bewusst, dass die Dunkelziffer natürlich höher ist,“ so Strobl. Das besänftigende Bild, das z.B. die SZ in ihrem Artikel zu Strobls Besuch, „Wenige antisemitische Vorfälle an Schulen“, anhand von Zahlen für Baden-Württemberg zu malen versucht, ist also tatsächlich ein beunruhigendes – und das nicht nur gefühlt.
Umgerechnet wurden in knapp zwei Wochen seit dem 7. Oktober bereits mehr als sieben Straftaten oder Aktionen pro Tag gemeldet. Ungezählt bleiben die Vorfälle, bei denen die Betroffenen nicht um Hilfe baten. Und ja, „an vielen Schulen gibt es auch Beratungslehrkäfte und insgesamt 28 schulpsychologische Beratungsstellen zum Umgang mit Diskriminierung“.
Das Problem bei diesen Zahlen ist die Tatsache, dass fast alle Maßnahmen erst dann in Kraft treten, wenn bereits etwas passiert ist. Und hier trifft gefühlte Realität ̶ nämlich die Angst ums eigene Leben ̶ auf Statistik: Ich muss erst zum Opfer werden, bevor etwas getan wird.
Jüdische Studierende der HfJS berichteten Strobl und Blume von ihren eigenen Erfahrungen; sei es bei einer Mahnwache in Mannheim zu den Terroranschlägen der Hamas, während derer einer Studentin gesagt wurde, dass Hitler „alles richtig gemacht“ hätte, sei es bei einem tendenziösen, anti-israelischen Vortrag im WeltHaus Heidelberg, während dessen über 50 Sympathisanten des selbsternannten Palästina-Aktivisten Georg Steins eine derart angespannte Stimmung erzeugten, dass drei anwesende Studierende aus gutem Grund ihre Zugehörigkeit zur HfJS für sich behielten. Eine Polarisierung greift um sich – oder mit den Worten von Blume: „Dualismus erzeugt immer Extremismus, das ist das Gefährliche“.
Dabei mangelt es nicht an Ideen, radikalisierende Entwicklungen rechtzeitig zu verhindern: Angelika Stabenow, Leiterin der HfJS-Bibliothek, schlägt beispielsweise vor, mehr Ausflüge von Schulklassen zur Hochschule zu organisieren, um den Kindern so den Raum zu geben, sich mit dem Unbekannten auseinanderzusetzen. Auch der Hochschulrabbiner Shaul Friberg bestätigt: „Es ist das Fremde, das Angst macht. Ich bin ständig im Dialog, mit Studierenden, Jüdinnen und Juden, Muslimas und Muslimen wie auch Christinnen und Christen – treffe aber meistens auf die Menschen, die diese Scheuklappen gar nicht tragen.“
Auch beim Projekt des Zentralrats „Meet a Jew“ nähmen Menschen teil, die ohnehin bereits eine bemerkenswerte Offenheit an den Tag legten, so Blume, und fügt hinzu, dass Lehrkräfte oftmals beim Thema Nahostkonflikt, Antisemitismus oder der Geschichte Israels überfragt seien.
Diesem Problem will man durch ein weiteres Projekt Herr werden: Prof. Dr. Johannes Becke, Inhaber des Ben-Gurion-Lehrstuhls für Israel- und Nahoststudien an der HfJS, setzt sich gemeinsam mit der Abteilung Islamwissenschaft der Universität Heidelberg für eine Abordnung einer Lehrkraft an den Standort Heidelberg ein, „um in Abstimmung mit dem Zentrum für Schulqualität und Lehrerbildung in Baden-Württemberg schulische Fortbildungen zur Geschichte und Politik Israels und des Nahen Ostens zu organisieren“. Anders als beim bereits existierenden Pilotprojekt in Bayern, wo die Stelle an der Abteilung Jüdische Geschichte angesiedelt ist, zielt das Heidelberger Projekt auf eine Begegnung der zwei Fächer auf Augenhöhe. So solle ein Angebot für Schülerinnen und Schüler geschaffen werden, sich mit den wichtigsten Themen der Region auseinanderzusetzen. „Heidelberg ist für dieses Projekt ideal,“ so Becke: „Der Wissenstransfer von Jüdischen Studien und Islamwissenschaft ist bereits erprobt. Die Masteranden der Nahoststudien profitieren genau von dieser Verknüpfung, die der Vielfalt der israelischen Gesellschaft, aber auch der Nachbargesellschaften gerecht werden soll.“ Gemeinsam mit Lehramt-Studierenden könnte Unterrichtsmaterial entwickelt und vom Zentrum für Schulqualität und Lehrerbildung getestet werden. Die Idee ist, Wissenstransfermöglichkeiten für alle Schulformen zu entwickeln und auch auf potenziell emotionale Verflochtenheit eingehen zu können – etwas, womit aktuell viele Lehrkräfte überfordert seien.
Emotional verflochten ist auch Rawan Osman, eine syrisch-libanesische Studentin der HfJS, die bereits mehrere Jahre als Friedensaktivistin tätig ist. „Wir dürfen nicht vergessen, dass viele geflüchtete Kinder und Jugendliche aus islamisch geprägten Ländern mit antidemokratischer Desinformation und einem tief verwurzelten antisemitischen Weltbild aufgewachsen sind“, so Osman. Die antiisraelischen Stereotypen können oft nicht bekämpft werden, wenn Wissen nur in Schulen und vornehmlich auf Deutsch vermittelt werde. „Wir brauchen niedrigschwellige Informationsangebote, akademisch fundiert und ansprechend gestaltet. Und vor allem: auf Arabisch vorgetragen.“ Gemeinsam mit Lukas Stadler, Historiker und Judaist an der HfJS, der bereits für die jüdische Gemeinde Graz eine Broschüre für Antisemitismusprävention verfasste, und David Lüllemann, Masterand an der HfJS, der langjährige Erfahrungen in Schulungen zur Sensibilisierung für Antisemitismus mitbringt, entwickelte Osman „ArabAsk“. Ein Projekt, bestehend aus aufklärenden Kurzvideos für TikTok und Instagram, das sich einzelnen Aspekten umstrittener Themenkreise wie zum Beispiel dem Nahostkonflikt, muslimischem Antisemitismus, Verschwörungstheorien, aber auch antiislamischem Rassismus widmet, und diese auf ansprechende Weise in arabischer Sprache erklärt. Zusätzlich liefert die Beschreibung der Videos Verweise auf seriöse, wissenschaftliche Literatur in arabischer, deutscher und englischer Sprache. Alle drei Studierende erhoffen sich einen Mitmacheffekt unter arabischsprechenden Menschen in Deutschland, die bisher schwiegen. Mit einem privaten Video erreichte Osman bereits über eine halbe Million Aufrufe in verschiedenen sozialen Medien, nachdem es vom Außenministerium Israels und einem syrischen Oppositionsmedium geteilt wurde.
Noch steckt das Projekt jedoch in Kinderschuhen und wartet auf finanzielle Mittel zur Unterstützung.
Die Idee ist gut, doch die Welt noch nicht bereit? (Tocotronic)
Während der Innenminister mit seinem Besuch vor allem ein Zeichen der Solidarität setzen wollte und davon überzeugt ist, dass wir alle aufgerufen sind, uns Hass und Hetze entgegenzusetzen, Stichwort: „Der Antisemitismus war nie weg“, zeigte Dr. Blume sich tatsächlich begeistert von den verschiedenen Ansätzen, die sowohl dem hausgemachten als auch dem migrierten Antisemitismus entgegen wirken können. Es bleibt abzuwarten, wie nachhaltig sich diese Begeisterung auf die Bereitstellung von Geldern zur Umsetzung der verschiedenen Projektideen auswirkt.
Das wichtigste Zeichen bei all diesen Besuchen scheint, den Worten auch gemeinsame Taten folgen zu lassen, damit anhand von Zahlen ein wirklich positives Bild gemalt werden kann.